Angst - (Umgang mit) Angst am Arbeitsplatz

(Umgang mit) Angst am Arbeitsplatz

Von Dorothee Schmid

Fiktives Fallbeispiel

Herr X, Mitte dreissig, arbeitet in der Kommunikationsabteilung eines grösseren Unternehmens. Er ist gemeinsam mit einer Kollegin zuständig für den Kontakt zu externen Medien (Radio, TY, Print- und Onlinemedien) und für den dortigen Auftritt seines Arbeitgebers.

Zu seiner beruflichen Tätigkeit gehören die Erarbeitung von Kon-zepten für PR-trächtige Unternehmensauftritte, das Verfassen von Auftritts-Drehbüchern und Scripts, die Teilnahme an zahlreichen Sitzungen sowie der tägliche Infor-mationsaustausch mit weiteren Beteiligten, sei es in persönlichem Kontakt, über Telefon oder e-mail.

Seit einigen Wochen fällt es Herrn

x zunehmend schwer, vereinbarte Termine einzuhalten. Er verschiebt Treffen oder sagt sie ab; er hält sich nicht an Fristen und zieht die elektronische Kommunikation den persönlichen Begegnungen vor. Aufgaben, für die er seinen Arbeitsplatz verlassen muss, schiebt er vor sich her und kann sich nur mit grossem Energieaufwand zu deren Erledigung zwingen, was ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Nach solchen Aussenterminen wirkt Herr X am nächsten Tag jeweils auffallend mitgenommen und angespannt. Seit kurzem bleibt er auch den täglichen Kaffeepausen in der Plauderecke fern und vermeidet das Essen im Personalrestaurant. Kollegen gegenüber, die ihn deswegen angesprochen haben, verhält er sich ausweichend.

Hin und wieder kommt er zu spät zur Arbeit. Weil er immer wieder Termine verschiebt oder absagt, wird bereits über die „Arbeitsscheu" von Herrn X gewitzelt. Manchmal sitzt er an seinem Arbeitsplatz, ohne etwas zu tun, und starrt geistesabwesend auf den Bildschirm seines Computers. Seit neustem hat er auch eine kleine Glasflasche mit Schnaps in einer Schublade, aus der er hin und wieder einen Schluck trinkt. Herr X hat zunehmend Probleme mit der effizienten und fristgerechten Erledigung seiner Aufgaben. Als er schliesslich eine eintägige externe Fortbildung mit der Begründung absagt, er habe eine wichtige Familienangelegenheit zu regeln, stösst er damit nur auf Kopfschütteln.

Einer Sekretärin seiner Abteilung fällt auf, dass sich Herr X neuerdings jeden Morgen durch seine Ehefrau mit dem Auto an den Arbeitsplatz bringen und am Abend wieder abholen lässt. Die Sekretärin erinnert sich später wieder daran, und zwar anlässlich einer Teamsitzung, bei der Herr X erst knapp vor Sitzungsbeginn im Konferenzraum erscheint und sich einen Sitzplatz unmittelbar neben der Tür aussucht.

Dort sitzt er dann völlig erstarrt und es bilden sich Schweissperlen auf seiner Stirn. Als er in seinen Unterlagen etwas  sucht, zittern seine Hände, worauf ein Teil der Papiere zu Boden fällt. Herr X ist auch, entgegen seinen früheren Gewohnheiten, nicht mit dem Lift, sondern über die Treppe zum Konferenzraum gekommen. Während der Sitzung steht er plötzlich auf und verlässt, eine Entschuldigung murmelnd, den Raum. Als eine andere Sitzungsteilnehmerin etwas später die Damentoilette aufsuchen will, trifft sie im Gang auf Herrn X, der zitternd und blass auf einem Stuhl sitzt und schliesslich auf ihre wiederholten Fragen, was denn los sei, antwortet, er habe grosse Angst und wisse nicht, warum. 

So oder ähnlich kann sich eine Angststörung am Arbeitsplatz zeigen und sowohl für den Betroffenen als auch für dessen Umfeld eine grosse Belastung darstellen. Für den Patienten selbst steht der unmittelbare Leidensdruck durch die Erkrankung im Vordergrund; für die Umgebung sind die damit einhergehenden Ein-schränkungen, die sich natürlich auf die Organisation und Prozesse am Arbeitsplatz ungünstig auswirken, von Bedeutung (Verspätungen, verzögerte Abläufe, stagnierende Prozesse, unerledigte Pendenzen, unzufriedene Kunden, finanzielle Einbussen etc.). Dazu kommen häufig Mehrbelastung durch die Übernahme liegen gebliebener Aufgaben der erkrankten Person sowie Verunsicherung, wie mit dem erkrankten Kollegen/der erkrankten Kollegin bzw. dem Mitarbeiter/der Mitarbeiterin umzugehen ist. 

Angst kann auf vielfältige Weise mit dem Arbeitsplatz in Zusammenhang stehen (zBsp. Angst vor den Anfor-derungen, soziale Angst, Angst vor dem Verlust der Arbeit, generalisierte Angst) bzw. durch den Arbeitsplatz aktiviert werden. Wie dieser Zusammenhang genau aussieht, um welche Art von Angststörung es sich im Einzelfall handelt, muss durch Fachpersonen abgeklärt und diagnostiziert werden.

In einem Interview mit dem Schweizerischen Arbeitgeberverband aus dem Jahr 2016 sagt Niklas Baer, Leiter der Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation der Psychiatrie Baselland, dass in der Schweiz 75% der psychisch Kranken erwerbstätig sind und dass deshalb psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz „normal" seien. Es lohnt sich daher, einen genaueren Blick auf das zu richten, was für den Umgang mit psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz - hier Angststörungen - wichtig und hilfreich ist.

Grundsätzlich gilt, dass gut gemeintes Schweigen für den Umgang mit psychischen Störungen am Arbeitsplatz nicht hilfreich ist. Vielmehr bewähren sich offenes Ansprechen und rasches Einbeziehen entsprechend geschulter Fachleute, was auch durch Niklas Baer bestätigt wird. Das gilt gerade und in hohem Masse für Angststörungen, bei denen neben der Angst selbst in der Regel ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten besteht. Alles, was mit der Angst in Zusammenhang steht, wird von den Betroffenen tunlichst und in zunehmendem Ausmass vermieden. Verhält sich das Umfeld der Patienten gleich (indem es die Thematisierung der Probleme vermeidet), unterstützt es dieses Vermeidungsverhalten und trägt letztlich dazu bei, dass die Angst erhalten bleibt. Das ist deswegen so, weil die Betroffenen durch das schonende Schweigen des Umfelds in ihrem Angstverhalten belassen und zu keinen neuen, korrigierenden Erfahrungen angeregt werden. Der erste Schritt im Umgang mit Menschen, bei denen sich vermutlich eine Angststörung entwickelt, besteht daher im direkten, respektvollen Ansprechen der beobachteten Probleme. Vielfach werden problematische Verhaltensänderungen vom Umfeld relativ rasch erkannt und als ,,irgendwie anders" oder „seltsam" wahrgenommen - was zunächst aber eher die Unsicherheit, was nun zu tun sei, verstärkt. Viel besser ist es daher, wenn die wichtigsten Verhaltensweisen, die typischerweise auf eine Angststörung hindeuten, bekannt sind; das vermittelt Sicherheit und erleichtert die direkte Ansprache der betroffenen Person. 

Die wichtigsten Anzeichen einer Angststörung: 

Vermeidungsverhalten (Dinge aufschieben; Orte u. Situatio-nen vermeiden; nur noch ganz bestimmte Routen und Wege benutzen) 

Sicherheitsverhalten (zum vor-aus alles abchecken; tausendmal nachfragen; sich immer wieder absichern; sich immer eine Begleitung organisieren) 

Dauernervosität, Anspannung

Vermehrtes Schwitzen, Zittern, Schwindelgefühle

Magen- bzw. Bauchschmerzen

Unerklärliche Angst 

Das Ansprechen dieser Verhaltensweisen dürfte in erster Linie in den Aufgabenbereich von Vorgesetzten fallen. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch Kolleginnen und Kollegen diesbezüglich aktiv werden können. Vermutlich haben letztere sogar einen gewissen Vorteil, weil es nicht selten leichter fällt, sich einem guten Kollegen/einer guten Kollegin gegenüber zu öffnen als einer vorgesetzten Person. Entscheidend sind in jedem Fall Transparenz über den Umgang mit dem Besprochenen sowie die Empfehlung, die Arbeit-geberseite darüber zu informieren. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der Arbeitgeber im Rahmen seiner Fürsorgepflicht auch Leben und Gesundheit des Arbeitnehmers schützen muss, und zwar mit Massnahmen, wie sie ,, ... nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betrie-bes oder Haushaltes angemessen sind .... " (Art. 328 C, Obligationenrecht). Der Arbeitnehmer wiederum hat eine Meldepflicht gegenüber dem Arbeitgeber, die nebst anderen Punkten auch Krankheit einschliesst - allerdings ohne Angabe der Diagnose. Im Falle einer Angststörung ist zu empfehlen, dass die Betroffenen selbst den Arbeitgeber· informieren und möglichst ihr Problem beim Namen nennen. Das bietet viele Vor-teile für einen offenen Umgang mit dem Thema, für adäquate Hilfe und korrigierende Erfahrungen.

Aus psychologischer Sicht ist es also in den meisten Fällen hilfreich, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber das Problem besprechen. Dadurch wird nicht nur das Vermeidungsmuster unterbrochen, sondern es ist auch möglich, entlastende Veränderungen vorzunehmen und gezielte, fachkompetente Unterstützung zu organisieren (Therapie) - was nicht nur dem Patienten zugute kommt, sondern mittelfristig auch die legitimen Inter-essen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber schützt (Wiedereinstieg in die Arbeit, Erhalt des Arbeitsplatzes, Normalisierung der Betriebsabläufe). Mit fachlicher Hilfe ist es möglich, eine präzise Diagnose zu stellen, aus der sich die passenden (therapeutischen) Massnahmen ableiten lassen. Aus juristischer Sicht ist zumindest die Meldung einer Erkrankung an den Arbeitgeber vorgeschrieben. Wenn der Arbeitgeber klare Bedingungen formuliert, die der Patient für den Erhalt seines Arbeitsplatzes erfüllen muss, ist das zusätzlich sicherlich hilfreich.